Blick auf Reigoldswil

Geschichte

Älteste Vergangenheit

(Bezugsquelle: Heimatkunde Reigoldswil)

Verglichen mit den reichen Fundstellen des mittleren Ergolztales ist die Gegend von Reigoldswil arm an Spuren der ältesten Besiedlung. Gefunden wurden zwar gelegentlich auf den Äckern Absplisse und behauene Hornsteine aus der jüngeren Steinzeit (3000 – 1800 v.Chr.), doch fehlen eigentliche Siedlungsplätze und Feuerstellen. Aus der Bronzezeit (1800 – 800 v.Chr.) stammt ein seltener Fund. Willy Schaub konnte 1981 am neu erstellten Waldweg unter der Babertenflue ein spitznackiges Steinbeil bergen. In der Nähe fanden sich auch einige Scherben eines grobkörnigen Topfes, so dass man da einen Rast- und Siedlungsplatz annehmen kann. Aus der nachfolgenden Eisenzeit (800 – 58 v.Chr.) liegen keine Funde vor. Besser steht es mit der Römerzeit (58 – 400 n.Chr.). Oberhalb Bütschen am Rande des Talbodens wurde ein römisches Strassenstück angeschnitten und untersucht. Einzelne Münzen fanden sich auf Gorisen, im Grund, auf Chilchägerten und im Opferstock der Kirche. Römische Keramik kam beim Tämpel und eine vollständig erhaltene Graburne beim Bau der Schuhfabrik bei der Moosmatt zum Vorschein. Römisches Mauerwerk fehlt, doch stecken zweifellos, wie in anderen Gemeinden, die Fundamente römischer Gutshöfe noch im Boden. Anhaltspunkte für das Vorhandensein solcher Siedlungen sind die Flurnamen. Diese enthalten manchmal römisches Namengut, wie Gämpis zu campus, in campris, auf dem Feld. Andere Flurnamen verdanken wir alemannischen Siedlern.

Mittelalter und neuere Zeit

(Bezugsquelle: Heimatkunde Reigoldswil)

Das hintere Frenkental gehört zu den Landschaften, die verhältnismässig spät von der alemannischen Zuwanderung erreicht wurden. Die Besiedlung erfolgte zum grossen Teil vom Mittelland her über die Jurapässe. Zu dieser Zeit war in der gebirgigen Gegend des Faltenjuras noch eine kelto-romanische Restbevölkerung ansässig, die mit den Einwanderern zusammen lebte, bis sie in der neuen Bevölkerung aufging. Dieser Vorgang erklärt sich aus den nebeneinander vorkommenden deutschen und romanischen Flurnamen. Die Siedlungen bestanden aus einfachen Holzbauten, die keine sichtbaren Spuren hinterlassen haben. Besser steht es mit den Grabfunden. Bis jetzt sind mehrere Reihengräber aufgedeckt worden, so am Südhang des Ziegelhölzlis, hinter dem Gasthaus zur Sonne und im Bergli. Von besonderer Bedeutung sind zwei Gräber. Das erste ist ein 1746 entdecktes, von Bruckner beschriebenes gemauertes Grab bei der Ziegelhütte. Das zweite Grab wurde 1933 entdeckt. Es war schlecht erhalten und enthielt das Skelett eines jungen Mädchens. Nach den Funden zu schliessen, stammte dieses Grab aus der zweiten Hälfte des 7. Jahrhunderts n. Chr. In dieser Zeit standen die Alemannen unter der Herrschaft der fränkischen Merowinger. Das Christentum war bereits eingeführt, auch die Namensform Rigoltswilre und die Reigoldswiler und die Lauwiler Kirchenpatrone St. Remigius und St. Hilarius passen in diese Zeitepoche.

Aus den genannten Grabfunden ist zu schliessen, dass in Reigoldswil verschiedene Siedlungskerne vorhanden sind. Einer der ältesten ist die Flur Hofstätten im Oberbiel mit dem Begräbnisplatz am Ziegelhölzli in der Nähe des Chilchli St. Hilar. Dann folgen Mittelbiel mit den Gräbern hinter dem Gasthaus zur Sonne und Unterbiel mit den Gräbern im Gebiet der Bolstelmatt und des Berglis. Von den nächsten vier Jahrhunderten ist nichts Genaues bekannt.

Erst um die Mitte des 12. Jahrhunderts wird Reigoldswil als Bestandteil der Herrschaft Waldenburg der Grafen von Frohburg genannt, deren Dienstmannen auf der Burg Rifenstein östlich des Dorfes sassen. Burchard und Ulrich von Rifenstein traten 1145 als Zeugen bei der Gründung des frohburgischen Klosters Schöntal auf. Bald darauf verschwanden diese Adligen. Unsicher ist, ob sie sich am 2. Kreuzzug (1147 – 1149) beteiligten und nicht zurückkehrten oder im Mannesstamme ausstarben. 1226 werden an ihrer Stelle die Edeln von Rigoltswilre urkundlich als Wohltäter des Klosters Schöntal genannt. Da die Keramikfunde auf Rifenstein für eine Besiedlung der Burg bis zu Anfang des 14. Jahrhunderts zeugen, kann angenommen werden, dass die Edeln von Rigoltswilre ebenfalls auf Rifenstein hausten. Es besteht aber auch die Möglichkeit, dass sie im Dorf selbst ansässig waren, denn es ist von einem Weiherhaus im Oberbiel, in der Nähe der Weiermatt, die Rede. Im Jahre 1345 verpfändete Graf Johann von Frohburg neben anderen Gütern das Dorf Reigoldswil an die Edeln von Ramstein. Als Johann 1366 starb, kam das Dorf an den Bischof von Basel. 1385 trat Bischof Immer von Ramstein die Hälfte des Besitzes in Reigoldswil pfandweise dem Ritter Burkhard Münch ab. Aber schon 1392 löste der Bischof das Pfand ein und Münch musste auf seine Rechte zu Reigoldswil verzichten. Diese Hälfte gelangte mit der Herrschaft Waldenburg im Jahre 1400 durch Kauf an die Stadt Basel, welche bald darauf auch die andere Hälfte von den Ramsteinern erwarb.

In der Zeit der Basler Herrschaft (1400 – 1798) war Schloss Waldenburg Sitz des Obervogts und damit auch Mittelpunkt des gleichnamigen Amtes. Aber auch Reigoldswil hatte damals gewisse zentrale Funktionen. Es besass mit Lauwil zusammen ein Gericht (Zivilgericht), das mit 10 Männern besetzt war. Den Vorsitz führte der sogenannte Meier, dem zugleich mit vier Geschworenen zusammen die Verwaltung der Gemeinde Reigoldswil anvertraut war. Dann gab es einen Amtspfleger für die Aufsicht über Weg und Steg; derjenige von Reigoldswil war für die Gemeinden des Hinterlandes zuständig. In den Dorfnamen Meierhänsi und Hansepfläger lebten Meier und Amtspfleger bis ins 20. Jahrhundert in unserem Dorfe fort. Obschon Reigoldswil kein Schützenhaus besass, war auf der Moosmatt für die umliegenden Gemeinen ein Schiess- und Musterungsplatz der Landmiliz. Über die Beteiligung von Reigoldswilern in den Kriegszügen der Eidgenossen im 16. Jahrhundert fehlen genaue Aufzeichnungen.

Immerhin finden sich bei den Teilnehmerlisten der Burgunderkriege Namen von Reigoldswiler Geschlechtern: Hans Löpy, Hanns Rudy, unter den Spielleuten beim Zug nach Nancy (1477) Ulrich Negelin. Im Bauernkrieg 1525 und in der nachfolgenden Kirchenreformation (1529) war es in Reigoldswil eher still, während die Landbevölkerung an anderen Orten sich sehr ereiferte. Auch der sogenannte Bauernkrieg von 1653 schlug hier keine grossen Wellen, aber immerhin fanden sich Leute, die in die Ereignisse eingriffen. So betätigte sich eine Frau, Margareth Bartholome, als Kundschafterin und der Wirt Urs Schweizer eile am 18. April 1653 über die Wasserfalle nach Mümliswil um die Oberländer aufzumahnen. In der darauf folgenden „Belagerung“ Liestals, wo sich ein Basler Truppenkontingent befand, zeichnete sich der Reigoldswiler Hans Bernhard Roth aus. Der Mann mit dem roten Bart führte ein grosses Schlachtschwert mit sich. Wenn er dieses emporhob, herrschte die tiefste Stille, wenn er es aber senkte, rief diese Bewegung das „unsinnigste Toben und Wüten des Landsturms“ hervor. Roth beteiligte sich am 1. Juni 1653 mit 200 Baselbietern am Gefecht zu Wohlenschwil und verhandelte nachher mit anderen Ausschussmitgliedern mit General Werdmüller. Nach dem Niederschlagen des Aufstandes ergriff Roth wie Isaak Bowe die Flucht, stellte sich aber später. Bei den Verurteilen wird er nicht genannt, anscheinend wurde er nach einer kurzen Untersuchungshaft entlassen.

In der unblutigen Revolution von 1798 war der Sonnenwirt Madöry bei den Patrioten, den Anhängern der neuen Ordnung. Er nahm am Neujahr 1798 beim „Friedensschmaus“ in der Bärenzunft zu Basel teil und war wohl auch die treibende Kraft, dass am 14. Januar 1798 „über zwanzig ledige Leut“ von Reigoldswil und anderen Orten auf dem Schloss Waldenburg erschienen, um Strafgelder zurückzufordern. Der verhasste Landvogt J.J. Müller war aber schon geflohen und der Schlossschreiber Munzinger konnte die aufgebrachten Leute beschwichtigen. Am 17. Januar 1798 ging das Schloss in Flammen auf. Die Zeit der Basler Wirren brachte dem Reigoldswilertal, das durch die Heimposamenterei eng mit Basel verbunden war, grosse Unruhe. Die Talschaft war umgeben von Revolutionsgemeinden, mit denen auch die angrenzenden Schwarzbuben sympathisierten. Im Januar 1831 hatte sich in Liestal eine provisorische Regierung gebildet, worauf die baseltreuen Gemeinden unter Druck gesetzt wurden. Auf die Hilferufe aus dem Reigoldswilertal beorderte die Stadt einige Offiziere, um den Widerstand gegen Liestal zu organisieren. Auch Waffen und Munition wurden geliefert. Am 11. Januar 1831 zog eine Abteilung von Aufständischen von Liestal her, um das  Reigoldswilertal zu unterwerfen. Eine zweite Abteilung unter Hauptmann von Blarer rückte vom Schwarzbubenland her, doch war der Widerstand in Reigoldswil erfolgreich. Blarers Truppen wurden gefangen genommen, aber nachher gegen das Versprechen, nicht mehr gegen das Tal zu kämpfen, freigelassen. Als ein weiterer Angriff von Liestal mit grosser Übermacht erfolgte, mussten sich die Reigoldwiler zurückziehen und die Basler Offiziere kehrten über Bretzwil in die Stadt zurück. In Reigoldswil führten sich die Eindringlinge recht übel auf; auch das Pfarrhaus wurde geschädigt. Eine Flintenkugel in einem Deckenbalken der Stube im „Feld“ zeugt heute noch von dieser Besetzung. Im  September des gleichen Jahres kam es zu einer weiteren Bedrohung von Reigoldswil. Diesmal wurde unter dem Kommando des Basler Obersten Frey auf der Wasserfalle und dem Dünnlenberg gegen  Aufständische aus dem Waldenburgertal gekämpft und ein weiterer Einmarsch von Liestal führte zu einer kurzen Besetzung des Dorfes Reigoldswil. Zum dritten Mal erlebte Reigoldswil die Schrecken des Krieges im Sommer 1833. Unterdessen war 1832 der neue Kanton Baselland gegründet worden und die Regierung in Liestal betrachtete es als Lebensfrage, die städtischen Gebiete in Reigoldswil und Gelterkinden gütlich oder mit Gewalt zu unterwerfen. Am 2. August 1833 rief ein Signalfeuer auf der Hohwacht bei Lauwil die Stadt Basel um Hilfe. Wiederum entbrannte der Kampf, diesmal in der Umgebung von Liedertswil. Dabei wurde ein Sohn des Müllers Stohler in Reigoldswil erschossen. Am 3. August 1833 fand dann der verhängnisvolle Auszug der Basler Truppen zur Unterstützung der oberen Gemeinden statt. Die Niederlage bei Frenkendorf-Pratteln besiegelte das Schicksal der treu gebliebenen Gemeinden. Durch den Tagssatzungsbeschluss vom 28. August 1833 wurde die Trennung beider Basel vollzogen und sämtliche linksrheinische Gemeinden fielen an den Landkanton.

Bei verschiedenen  Wiedervereinigungsbestrebungen (1828, 1861, 1906) machte Reigoldswil eifrig mit. 1906 war Major Gustav Schneider sogar im Aktionskomitee der Wiedervereinigungsfreunde. Bei der endgültigen Abstimmung über die Verfassung eines vereinigten Kantons Basel im Jahre 1969 standen dann den 621 Nein nur 47 Ja gegenüber. Aus der Zeit des Sonderbundskrieges (1847) besteht eine anschauliche Beschreibung der Rückkehr der „Milizen des 1. Auszugs“ am 6. Januar 1848. Die schon heimgekehrten Soldaten zogen in Reihen unter Trommelklang den erwarteten Waffenbrüdern entgegen. Diese wurden in einem bekränzten Wagen in Liestal abgeholt. Beim Hause zum Reifenstein fand der festliche Empfang mit Reden und Gesangsvorträgen statt. Bei der Mobilmachung anlässlich des 1. Weltkrieges beschloss der Gemeinderat, „die einrückende Mannschaft auf Wagen auf Kosten der Gemeinde nach Liestal zu führen“. Arme Familien und solche, deren Ernährer einberufen wurden, sollten unterstützt werden. Ausserdem waren die Einwohner verpflichtet, bei Nachbarn, wo es an Arbeitskräften mangelte, Aushilfe zu leisten.

Im übrigen waren in Reigoldswil während der Grenzbesetzung 1914 – 1918 nur vorübergehend Truppenteile einquartiert. Noch im guten Gedächtnis sind die Ereignisse des 2. Weltkrieges. Die Kriegsmobilmachung am 1. September 1939 rief in unserem Dorf 123 Wehrpflichtige unter die Waffen. Das Dorf resp. das Schulhaus war mehr oder weniger stark mit Truppen belegt. Im Sommer 1940 musste zeitweise die Schule in die Kirche verlegt werden. Am längsten waren einquartiert zwei Kompagnien des solothurnischen Ter. Füs. Bat. 139, ferner Kompagnien der baslerischen Ter. Füs. Bat. 127 und 128, des Schützenbat. 5 und weitere Einheiten. Es herrschte ein gutes Verhältnis zwischen Militär und Bevölkerung. Auch Rationierung, Mehranbau und andere Lasten werden mit guter Disziplin getragen. Die im Dezember 1939 eingeführte Lohn- und Verdienstordnung enthob den zum Wehrdienst  aufgebotenen Bürgern vieler Sorgen um das Wohl ihrer Familien.

Auf die Kriegsjahre folgten die Zeiten des wirtschaftlichen Aufschwungs. Sie erforderten eine berufliche Umstellung des einstigen Posamenterdorfes zu anderer industrieller Betätigung, wobei allerdings mangels eigener Arbeitsplätze die Pendelwanderung notwendig wurde. So ist Reigoldswil heute in hohem Masse mit der engeren und weiteren Heimat verbunden. Und es teilt sein Schicksal wie so viele ländliche und städtische Orte mit der weiten Welt, mit ihrer Unsicherheit und ihren politischen und wirtschaftlichen Problemen.



Die Wasserfalle

Der Tunnel durch die Wasserfalle

Eine spannende Geschichte aus der Vergangenheit geschrieben aus der Feder des Autors Alex Capus. 

3520 Meter lang hatte er werden sollen und das Kernstück einer Bahnlinie, die Bern und Basel verbindet. Mit dem Bau des Tunnels durch die Wasserfalle sollte für die Juradörfer Mümliswil und Reigoldswil das Eisenbahnzeitalter anbrechen. Nach elf Monaten war der Traum vom Anschluss an die weite Welt vorbei. Zurück blieben erboste und betrogene Dörfler und Tunnelarbeiter. 

Lange vor dem ersten Spatenstich begann in Mümliswil und Reigoldswil der Aufschwung. Die Einheimischen bereiteten sich vor auf den Strom von Italienern, Montenegrinern, Deutschen und Franzosen, die den Tunnel bauen sollten. Alle nahmen hohe Kredite auf, um ihre Dachstöcke und Scheunen auszubauen zu Arbeiterwohnungen. 

Die Juradörfer Reigoldswil und Mümliswil schlossen sich im Frühling 1870 zusammen, um einen Tunnel zu graben durch den Berg, der sich tausend Meter hoch zwischen ihnen erhebt. Durch den Tunnel sollte eine Eisenbahn führen, die erstens Reichtum in die armen Täler bringen, zweitens die Deutschschweizer Hauptstädte Basel und Bern auf kürzestem Weg miteinander verbinden und drittens die wichtigste Verbindung zwischen Deutschland und Italien werden sollte. Gross war deshalb die Begeisterung der Dörfler, als im Herbst 1874 die Tunnelarbeiter mit ihren Maschinen auffuhren und zu graben anfingen. Aber sie hatten die Rechnung ohne die nahe Kleinstadt Olten gemacht, die dank der Eisenbahn zu Macht und Wohlstand gekommen war. 

Stephensons Idee

Der Berg heisst Wasserfalle, da sich auf seiner nördlichen, der Reigoldswiler Seite, ein Bach über eine hohe Felskante stürzt. Dass sich das Juragebirge nirgends so leicht durchstossen lässt wie hier, war den Ingenieuren schon aufgefallen, als es in der Schweiz noch keine einzige Bahn gab.

Im Herbst 1850 hatte die Landesregierung den englischen Einsenbahnpionier Robert Stephenson, dessen Vater George die Dampflokomotive erfunden hatte, mit dem Entwurf eines Schienennetzes für den jungen Eidgenössischen Bundesstaat beauftragt. Bis dahin war die Idee weit verbreitet, die drei Deutschschweizer Hauptstädte Basel, Bern und Zürich jeweils auf der kürzestmöglichen Strecke, also in einem Dreieck, miteinander zu verbinden. Die westliche Seite dieses Dreiecks hätte die Wasserfallen-Bahn gebildet.

Dieser Plan gefiel all jenen Orten und Landschaften, die auf einer Seite des Dreiecks lagen; diejenigen aber, die mittendrin im Dreieck lagen oder weitab davon, konnten keine Freude haben. Also ging das Gerangel los wie immer, wenn irgendwo eine Strasse oder eine Bahn gebaut wird. Es gab Intrigen und politische Ränkespiele, und natürlich waren es die ahnungslosen Dörfler aus Mümliswil und Reigoldswil, die zum Schluss das Nachsehen hatten. Dass jemand an ihnen vorsätzlichen Betrug begannen hatte, ist heute, anderthalb Jahrhunderte später, nicht mehr zu beweisen; aber erzählen, was damals geschah, und herausfinden, wer vom Unglück der Dörfler profitierte: Das kann man.

Im Zentrum des Dreiecks – also weitab von allen drei Bahnstrecken – lag die Kleinstadt Olten, die seit der Antike vom Handel und internationalen Verkehr gelebt hatte. Schon die alten Römer hatten hier die Aare überquert und die Pferde gewechselt, bevor sie über den Hauensteinpass nach Augusta Raurica und weiter nach Gallien und Britannien zogen. Dass Olten nun plötzlich weitab von allem modernen Verkehr läge, konnten die selbstbewussten Bürger der Stadt nicht zulassen. Zu beweisen ist im Nachhinein nichts mehr, wie gesagt – aber Tatsache ist, dass 1850, als Stephenson seinen Bericht verfasste, ein Oltner Bürger in der Landesregierung sass: Das war der hoch angesehene freisinnige Kaufmannssohn und Revolutionär Josef Munzinger, Mann des Ausgleichs zwischen den katholischen Landgegenden und den protestantischen Städten, erster Finanzminister der modernen Schweiz und mitverantwortlich für die Schaffung des Schweizer Franken, der bis auf den heutigen Tag gesetzliches Zahlungsmittel ist.

Tatsache ist auch, dass die Regierung von Stephenson ein Projekt anforderte, in dem die Anbindung Basels an Bern und Zürich mit nur einem Juradurchstich bewerkstelligt würde. Und Tatsache ist weiter, dass damit aus Gründen der Geometrie die Idee des Dreiecks gestorben war. Gefragt war nun eine Linie, die von Basel aus direkt ins Zentrum des Dreiecks führte. Und im Zentrum des Dreiecks lag – auch das ist eine Tatsache – Olten. 

Olten wird zum Eisenbahnknotenpunkt

Mit Feuereifer wurden nun Eisenbahnen gebaut, und zwar sternförmig um den Knotenpunkt Olten. 1856 gingen die ersten Teilstrecken ostwärts Richtung Zürich und südwärts Richtung Luzern in Betrieb, gleichzeitig wurde am Hauenstein ein Tunnel gegraben, und 1858 traf von Norden her der erste Zug der Schweizerischen Centralbahn aus Basel in Olten ein. Das Städtchen sprenge seine mittelalterlichen Mauern, wuchs und gedieh und nahm jenen Aufschwung, den die Juradörfer Mümliswil und Reigoldswil für sich erhofft hatten. Die Idee der Wasserfallen-Bahn schien für alle Zeit begraben.

Aber dann vergingen ein paar Jahre und die Umstände änderten sich. Die Oltner verloren ihre Vertretung in der Landesregierung, weil Josef Munzinger ob der Ränkespiele auf dem politischen Parkett schwermütig wurde und zurücktrat. Und dann – vielleicht konnte es nur nach dem Rücktritt Munzingers geschehen – trat ein Gesetz in Kraft, das für die Oltner erhebliche Scherereien bedeutete, für die Juradörfer aber neue Hoffnung. Das neue Eisenbahngesetz von 1873 nämlich verlangte von den Bahnbetreibern, dass Güterzüge jeweils auf der kürzestmöglichen Strecke transportiert wurden. Falls also jemand eine Strecke baute, die beispielsweise Basel und Bern auf kürzestmöglichem Weg miteinander verband, musste Olten einen grossen Teil seines Verkehrs an die neue Konkurrenz abtreten.

Diese Chance wollten die Mümliswiler und Reigoldswiler nutzen. Sie bildeten ein Komitee, machten Messungen und Pläne und Berechnungen. Am 4. Juni 1873, fünf Monate nach In-Kraft-Treten des Gesetzes, beantragten sie beim Kanton Basel-Landschaft ein Konzessionsgesuch zum Bau und Betrieb der Wasserfallen-Bahn. Gross war dann das Erstaunen der Dörfler, als sie erfuhren, dass nur einen Tag zuvor die Schweizerische Centralbahn ein genau gleiches Gesuch gestellt hatte. Natürlich steht nirgends geschrieben, dass hinter diesem zweiten Konzessionsgesuch eine Intrige der Stadt Olten steckte, die um ihre privilegierte Stellung als Einsenbahnknotenpunkt fürchtete. Aber Tatsache ist, dass im Direktorium der Centralbahn jahrzehntelang der Oltner Wirtesohn Johann Jakob Trog sass und dass die wichtigste Strecke der Centralbahn die Linie Basel – Olten war. 

Der Aufschwung beginnt

Die Dörfler in ihrer Unschuld waren zufrieden. Hauptsache, die Wasserfallen-Bahn wurde gebaut. Und in der ersten Zeit sah es aus, als hätten Mümliswil und Reigoldswil allen Grund zur Zuversicht; denn lange vor dem ersten Spatenstich begann der Aufschwung. Die Einheimischen bereiteten sich vor auf den Strom von Italienern, Montenegrinern, Deutschen und Franzosen, die den Tunnel bauen sollten. Alle nahmen hohe Kredite auf, um ihre Dachstöcke und Scheunen auszubauen zu Arbeiterwohnungen. Ein Wirtshaus nach dem anderen wurde eröffnet, Transportunternehmen, Kostgängereien und Krämerläden gegründet, die Liegenschafspreise stiegen ins Unermessliche – es herrschte Hochkonjunktur. Alles wurde auf Kredit gekauft und auf Kredit geliefert, alle gingen füreinander kreuzweise Bürgschaften ein, stets im Hinblick auf das nahende goldene Eisenbahnzeitalter.

Vorerst schien die Rechnung aufzugehen. Die Centralbahn machte sich tatsächlich daran, die Konkurrenz zu ihrer eigenen Hauensteinlinie zu bauen; zumindest sah es so aus. Auf beiden Seiten der Wasserfalle gingen je 250 Arbeiter ans Werk, schufteten zwölf Stunden pro Tag rund um die Uhr für einen Lohn von fünf Franken und wollten nach Schichtwechsel unterhalten werden. In Mümliswil gab es kurz nach Baubeginn 23 Kneipen – bei 1250 Einwohner; in Reigoldswil immerhin 13. Glücksspieler reisten an, Gaukler und Damen von zweifelhaftem Ruf. Um zu verhindern, dass zu viel Geld wieder aus den Juratälern abfloss, wechselten einige Wirte und Händler den Arbeitern den Lohn zu einem besonders vorteilhaften Kurs in selbst geprägten Münzen, die ausserhalb des Dorfes keine Gültigkeit hatten. Ein Reigoldswiler Krämer namens Theodor Bieder lancierte sogar eine Tabakmarke namens „Wasserfallen-Tabak“, deren Markenzeichen eine aus dem Tunnel fahrende Lokomotive war. 

Die undurchschaubaren Absichten der Centralbahn

Es soll hier nicht behauptet werden, die Centralbahn habe die Wasserfallen-Bahn nur zu bauen begonnen, um deren Verwirklichung letztlich zu verhindern. Aber ebenso wenig möchte man seine Hand dafür ins Feuer legen, dass sie deren Verwirklichung mit aller Kraft und allem Wissen angestrebt hätte. Denn Tatsache ist, dass die Centralbahn, die bei allen anderen Bauwerken stets grössten Wert auf Solidität und Qualität gelegt hatte, für den Tunnelbau eine ziemlich unerfahrene und unbekannte deutsche Firma namens Schneider, Münch & Jerschke engagierte, die offensichtlich bei den Banken nicht besonders viel Kredit hatte und über wenig eigenes Geld verfügte. Damit wiederum soll nicht etwa unterstellt werden, dass... – aber gut.

Am Nachmittag des 26. Oktober 1874 wurden unter Böllerschüssen die Erdarbeiten begonnen und am 30. Oktober meldete das „Solothurner Tagblatt“, offenbar schon unter bösen Vorahnungen: „Viele Arbeiter aus aller Herren Länder haben sich eingefunden; wir wollen hoffen, es werde alles so friedlich enden, wie es angefangen. Gott gebe es“.

Auf beiden Seiten des Bergs trieben die Arbeiter einen Stollen in den Kalkstein. 3520 Meter lang hätte der Tunnel werden sollen; innert eines knappen Jahres entstand ein Loch von 1360 Metern Tiefe auf der Südseite und von vielleicht 500 Metern auf der Nordseite. Schon nach wenigen Wochen aber kursierten die ersten Gerüchte. Es irritierte die Einheimischen, dass Schneider, Münch & Jerschke offenbar so knapp bei Kasse war, dass der Materialverwalter das Petrol für die Lampen nicht in grossen Mengen beschaffen konnte, sondern Liter für Liter beim Krämer kaufte und dass er sich mit dem Bezahlen sehr lange Zeit liess. Die Ingenieure von Schneider, Münch & Jerschke seien nichtsnutzige Dilettanten, erzählte man sich im Dorf; der Buchhalter saufe Portwein von früh bis spät, der Geometer mache seine Messungen so irgendwie über den Daumen und überhaupt sei schon jetzt von blossem Auge zu erkennen, dass die zwei Tunnelstollen einander verfehlen und irgendwo in der Tiefe des Bergs enden würden. 

Die Arbeiter treten in den Streik

Das waren Gerüchte. Sicher ist aber, dass zur gleichen Zeit die Wasserfallen-Bahn zu Fall gebracht wurde – und zwar weder im Tunnelstollen noch im Ingenieurbüro, sondern in gut geheizten Sitzungszimmern, bei Zigarren und Wein und vertraulichen Gesprächen. Wer bei diesen Gesprächen dabei war und worüber man gesprochen hat, weiss man nicht. Hingegen ist bekannt, was gleichzeitig draussen auf der Baustelle geschah. Nachfolgend die Meldungen des „Solothurner Tagblatts“.

31. Oktober 1874: „Die Centralbahn schreitet voran mit Auszahlungen für enteignetes Land. Bereits sind hierfür 70000 Franken, bestehend in sieben Zehntnern Silber, in der Amtsschreiberei Balsthal angelangt“.

15. November: „Die Eisenbahnbauten rechts und links im Lande bringen merklich reges Leben ins Land. Täglich reisen in Olten eine Menge Italiener durch, die Arbeit am Wasserfallen-Tunnel suchen. Mümliswil soll bereits eine grosse Ähnlichkeit mit Göschenen am Gotthard-Tunnel zeigen“.

19. Februar 1875: „Am 19. d. ist auf der ganzen Eisenbahnlinie ein Streik ausgebrochen. Um sieben Uhr morgens kamen sämtliche italienischen Arbeiter singend ins Dorf zurück und eine Stunde später rückten die deutschen nach. Grund dieser Arbeitseinstellung soll sein, dass heute zum ersten Mal im Akkord sollte gearbeitet werden und die Arbeiter behaupteten, es verdiene kein Mann per Tag Fr. 2.50, was offenbar für dergleichen Arbeiten zu wenig ist. Man ist hier gespannt, wie die Sache enden wird. Im Allgemeinen beklagen sich die Arbeiter schon längstens über zu geringen Lohn; wenn zwei Regentage in eine Woche fallen, können sie ihre Kostgeber nicht mehr befriedigen. Es sind schon bedeutende Verluste zu verzeichnen. Es muss erwähnt werden, dass auf jeden Zahltag die hiesige Polizei und die von Balsthal requiriert wird, damit die Arbeiter sich ja nicht muxen dürfen wegen zu geringem Lohn“.

16. März: „Gestern Abend circa 7 Uhr hat im Hauptschacht in der Limmern eine Dynamit-Explosion stattgefunden, bei welcher fünf Personen mehr oder weniger erheblich verletzt wurden, so dass wahrscheinlich Amputationen vorgenommen werden müssen. Die Ursache dieses Unglücks konnte noch nicht genau ermittelt werden, doch scheint der Hauptgrund in der mangelhaften Beaufsichtigung von Seite der Baugesellschaft zu liegen. Gerechte Entrüstung hat bei der gesamten hiesigen Bevölkerung auch das brutale Benehmen eines Bauaufsehers hervorgerufen, welcher hiesige Bürger, die auf der Unglücksstätte zur Hilfeleistung eilten, barsch zurückweisen wollte“.

15. April: „Heute Nacht 12 Uhr hat im Schacht Nr. 2 der Arbeiter Jakob Baumgartner durch Bohren eines Loches in einem Stein, in dem sich noch ein alter Dynamitschuss befand, eine Explosion verursacht, die ihn beide Hände kostete und wahrscheinlich das Leben kosten wird. Der Arbeiter hat sein Schicksal selbst verschuldet, indem er nicht nach Auftrag seines Meisters bohrte“.

17. April: „Im hiesigen Bürgerspital ist gegenwärtig der ausnahmshohe Stand von 83 Kranken. Der Grund davon liegt aber nicht in einer herrschenden Epidemie, sondern in der grossen Zahl verletzter oder kranker Eisenbahnarbeiter, die in der Nähe beschäftigt sind“.

27. April: „Zur Warnung. Die in hiesiger Gegend sich aufhaltenden italienischen Eisenbahnarbeiter, welche sich bis anhin so ziemlich ruhig verhielten, fangen nun auch an, die Gegend unsicher zu machen, wie dies anderwärts geschieht, wo sie in grösserer Zahl auftreten. Vorgestern war ein Rudel dieser Südländer im Gasthaus z. Falken in Solothurn und misshandelten dort einen Adolph Rubitschung derart, dass er ins Spital gebracht werden musste. Das Publikum wird daher gut tun, stets ein wachsames Auge zu haben und bei nächtlichen Ausgängen auf alles gefasst zu sein. Der Chef des Landjägerkorps hat der Polizeimannschaft Ordre erteilt, die Patrouillen zu verdoppeln und stets mit geladenem Geschosse versehen zu sein“.

26. Mai: „ Letzten Sonntag hatten die Arbeiter Zahltag. Notwendige Folge davon war, dass es am Sonntag wieder Prügeleien und andere polizeiwidrige Auftritte absetzte. 6 Italiener wurden verhaftet“.

8. Juni: “Wie uns schon von vielen Seiten gemeldet worden war, machen sich die italienischen Eisenbahnarbeiter das Vergnügen, in den umliegenden Wäldern die jungen Vögel zu annexieren, um sich daraus einen Leckerbissen zu bereiten“.

9. Juli: „In Mümliswil wurde am Mittwochabend dem Eisenbahnarbeiter Wendolin Feisst beim Abladen von Dielen das rechte Bein unter dem Knie zerschmettert. Dasselbe muss wahrscheinlich amputiert werden“.

27. Juli: „Das Gewitter vom Donnerstag hat grosse Verwüstungen an den Tunnelarbeiten angerichtet. In wenigen Augenblicken schwoll der Limmernbach zu einem schmutzigen Strome an, der eine Menge Baustangen und Bretter, Karren etc. mit sich fort nahm und beinahe wären auch ein Mann und ein Knabe dem tobenden Elemente zum Opfer gefallen, wenn nicht rasche Hilfe zur Hand gewesen wäre“.

28. Juli: „Die Arbeiten an der Wasserfallen-Bahn nehmen einen ruhigen Fortgang, obschon sich unerwartete, grosse Hindernisse diesem Werk entgegenstellen – Hindernisse und Anfeindungen, welche anfangs nicht in Sicht waren“.

30. Juli: „Am Freitagnachmittag ertranken beim Baden in der Aare drei italienische Eisenbahnarbeiter, darunter zwei Brüder, von denen der eine 16, der andere 18 Jahre alt war. Der Vater der Brüder, der auch hier arbeitete, geriet bei der Unglückskunde fast in Verzweiflung“.

30. August: „Die Arbeiten an der Wasserfallen-Bahn sind bis anhin trotz mannigfachen Hindernissen ziemlich vorgerückt. Ein Übelstand macht sich hier aber wie sonst nirgends geltend und könnte leicht zu argen Exzessen führen. Es sollte nämlich laut Reglement jeden dritten Sonntag des Monats die Zahlung der Arbeiter erfolgen. Solcher Zahltag war nun schon zu wiederholten Malen angesagt, bei Annäherung desselben wieder abgesagt worden, so dass jetzt nach Verfluss von 14 Tagen noch nicht abzusehen ist, wann der Zahltag erfolgt. Der Grund für diese zurückhaltende Zahlung mag vielleicht bloss einzig aus Spekulation des Zinstreffnisses bei der Bauunternehmung zu suchen sein“.

26. September: „Der Regierungsrat erhielt beunruhigende Depeschen von Mümliswil. Man fürchtete Unruhen und Gewalttätigkeiten von Seiten der am Wasserfallen-Tunnel beschäftigten Arbeiter, weil die Unternehmer seit 6 Wochen nicht mehr Zahltag machen. Die Regierung verstärkte die Polizei in Mümliswil, traf Vorkehren für militärische Hilfe und sandte Herrn Vigier als Kommissär an Ort und Stelle. Zu gleicher Zeit benachrichtigte sie das Direktorium der Centralbahn und bat dasselbe, den Arbeitern den rückständigen Lohn auf Rechnung der Unternehmer auszubezahlen“.

27. September: „Heute Morgen haben sämtliche Arbeiter die Arbeit eingestellt und die Maschine, mit welcher gearbeitet wurde, unbrauchbar gemacht. Das Direktorium der Centralbahn aber hat den erfreulichen Beschluss gefasst, die rückständigen Löhne bis 25. September auszubezahlen, womit Konflikt und Gefahr dermalen beseitigt ist“. 

Der Baustopp hat verheerende Folgen für die Dörfer

Gleichzeitig mit dem letzten Lohn bekamen sämtliche Arbeiter die Kündigung, denn das Bauunternehmen Schneider, Münch & Jerschke war in Konkurs gegangen – im Jura erzählte man sich, dass ein gewisses Bankhaus, dessen Direktor ein Oltner war, der Firma keinen Kredit mehr geben wollte. Die ausländischen Arbeiter zerstörten in der Wut Maschinen und Werkzeuge, schossen ein paar Mal mit Pistolen aufs Baubüro und zogen fort. Dann wurde es still an der Wasserfalle.

Für die Dörfler waren die Folgen verheerend. Überall waren zerstörte Wiesen, abgesägte Obstbäume, erhoben sich drohend die Schutthalden. Plötzlich standen die Arbeiterwohnungen leer, die mit fremdem Geld gebaut worden waren; plötzlich fehlte den Gasthäusern die Kundschaft, und die Fuhrunternehmen hatten keine Arbeit mehr. Allein in Mümliswil gingen 50 Familien Konkurs. Ein Mümliswiler Bäcker, der ohne Bezahlung Brot für mehrere Tausend Franken geliefert hatte, zündetet eines Nachts aus Wut die Arbeiterkantine an und wanderte nach Amerika aus. Ihm folgten Dutzende, die der Heimat ebenfalls enttäuscht den Rücken wandten.

Zwar wurde die Centralbahn vor Gericht gezwungen, den Dörfern eine Entschädigung zu zahlen. Gleichzeitig aber wurde sie von der Verpflichtung, die Wasserfallen-Bahn umgehend zu bauen, enthoben. Interessanterweise aber hat die Centralbahn ihre Konzession für die Wasserfallen-Bahn immer wieder verlängern lassen, bis weit ins 20. Jahrhundert hinein; erst 1916, als mit der Eröffnung des Hauenstein-Basistunnels Oltens verkehrstechnische Vorrangstellung auf alle Zeit gefestigt war, liess man die Konzession verfallen. Nun wäre es kühn zu behaupten, die Centralbahn habe die Konzession nur behalten, damit niemand anderes sie übernehmen konnte. Ebenso wenig aber lässt sich beweisen, dass jemals die geringste Anstrengung unternommen worden wäre, die Wasserfallen-Bahn doch noch zu realisieren. Jedenfalls dachte die Centralbahn nicht daran, wenigsten die zwei Tunnelstollen, die den vier Kilometer breiten Berg immerhin   zur Hälfte durchstossen hatten, zu sichern und zu erhalten; so zerfiel das begonnene Werk. In Mümliswil wurden die grossen Steinquader, die für den Bau des Tunnelportals herbeigeschafft worden waren, 1881 für den Bau einer Brücke über den Dorfbach verwendet. Der Tunnel selbst verfiel.

Heute erinnert in Mümliswil nur noch das Wohnquartier „Linie“ an den Eisenbahnbau; es steht auf dem ehemaligen Bahndamm, der mit Aushubmaterial des Tunnelbaus aufgeschüttet wurde. Hin und wieder senkt sich der Boden ein bisschen ab, sodass das eine oder andere Wohnhaus in eine schiefe Lage gerät. Auch die auf den Tunnel zuführende schnurgerade Schneise ist noch zu sehen; sie dient seit 1889 als künstliches Bett für den Dorfbach und seither hat es in Mümliswil keine Überschwemmungen mehr gegeben. Auf Reigoldswiler Seite liegt vergessen im Berg ein 60 Meter tiefer Vortunnel, der hinter dem Bahnhof zum eigentlichen Wasserfallen-Tunnel geführt hätte. Der Tunnelboden steht knietief unter Wasser, an der Decke bilden sich Stalaktiten. 

Die Spuren des Tunnelbaus sind bis heute sichtbar

In den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts geschah es immer wieder, dass im Berg ein Stück Tunnel einbrach, worauf bei Tageslicht plötzlich eine Kuh im Boden versank oder auch ein ganzer Gemüsegarten und die Bauern sich nicht mehr getrauten, mit ihren Fuhrwerken auf die Felder zu fahren. Wie man sich im Dorf erzählt, sind noch spät im 20. Jahrhundert junge Burschen auf der Mümliswiler Seite durch den vertikalen Lüftungsschacht hinunter in den Tunnel geklettert und haben diesen voller Werkzeuge gefunden, als ob die Arbeiter jeden Augenblick zurückkehren könnten. Wenn das stimmt, müssen es mutige und geschickte Burschen gewesen sein; denn laut den Bauplänen führte der Lüftungsschacht 125 Meter durch massiven weissen Jurakalk in die Tiefe. Heute ist vom Schacht, der anderthalb Kilometer nördlich des Tunnelportals in einer wild zerklüfteten Schlucht lag, nicht mehr viel zu sehen. Der Einstieg ist verschüttet, zurückgeblieben ist ein Krater von drei Metern Durchmesser, in dessen Mitte eine 20 Meter hohe Esche steht. In Mümliswil aber erzählen die alten Männer einander heute noch, dass sie als Buben Steine in den Schacht warfen und die Sekunden zählten, bis der Stein auf dem Tunnelboden aufschlug.

Wie Reigoldswil die Wasserfalle verloren hat

Von Dr. Paul Suter

Südlich von Reigoldswil bildet die Passwangkette einen markanten Abschluss des hinteren Frenkentales. Der Felsgrat der höchsten Jurakette des Baselbiets war von alters her die natürliche Grenze zwischen Sisgau und Buchsgau. Erst im Galgenkrieg 1531, einer Auseinandersetzung zwischen Basel und Solothurn, gelang es der Aarestadt, über die Wasserscheide nach Norden vorzustossen und einen schmalen Landstreifen, das Gebiet der Hinteren Wasserfalle, ihrem Territorium anzugliedern. In der vorliegenden Untersuchung lassen wir diese Grenzbereinigung beiseite und beschränken uns auf die Waldungen der Enzianflue, der Ankenballen, der Hinteren Egg und des Chellenchöpflis. 

Ursprünglich verlief die Banngrenze Reigoldswil-Waldenburg vom Felskopf, Ankenballe genannt, in südlicher Richtung über die Wasserfallenweide hinauf zur Hinteren Egg bis zur Mümliswiler Grenze beim Chellenchöpfli. Somit befand sich das Gebiet der Vorderen Wasserfalle im Reigoldswiler Gemeindebann. Aber bereits 1623 (vielleicht schon früher) wurde die Wasserfallenweide als «Vogts Waydt» bezeichnet. Sie war also ein Bestandteil des Schlossgutes Waldenburg (Sennhaus) und wurde als Sommerweide benutzt. Dieser Umstand und eine Grenzbeschreibung im Gemeindebuch des Städtchens Waldenburg, wonach seine Gemeindegrenze «bis uff die Stägen» (d. h. die steile Stelle des alten Wasserfallenweges bei der Säuschwänki) verlaufe, veranlasste Waldenburg im 18. Jahrhundert, das Gebiet der Weide als Teil seines Bannes zu betrachten.

Im Herbst 1722 wandte sich die Gemeinde Reigoldswil an den Obervogt Thurneisen auf Waldenburg und verlangte eine Untersuchung der Grenzverhältnisse auf der Wasserfalle. Thurneisen hörte auch die Waldenburger an, die aufgrund einer Eintragung in ihrem Gemeindebuch ihren Standpunkt verteidigten. Der Rat in Basel übertrug darauf die Angelegenheit den Waldherren, die mit Zuziehung der Gescheide beider Gemeinden vermitteln sollten.

Nach einem Vergleich wurde der Verlauf der Banngrenze Waldenburg-Reigoldswil folgendermassen festgelegt: "in der Wasserfallen von dem Ahornenen Stockh beym bronnen grad über auff den fridhag, so an Bärengraben stosset, und von dannen bis auf die Stegen, von da auff den Herrlichkeith Stein ob dem gatteren bey der Legi (Legi = Hagübergang), und gegen der Kellenberger Höchi und auf hinteren Kelleneckh". Was sich in diesem Bezirk gegen Reigoldswil "an Brennholtz befinden thut", gehört allein den Reigoldswilern, "was aber von Bauholtz durch obrigkeitlichen Anschlag den Waldenburgern von ihrem Waibel, den Reigoldswilern von ihrem Amptpfleger gezeigt, auch die benötigten Schlittkuechen, mit Bewilligung eines jeweiligen Landvogts, gedachten Reigoldswilern aus dem Waldenburger Bahn verabfolgt werden, doch dass die Gemeind Reigoldwil dies Orthes ausser dem Brennholtz weder Bahns-Gerechtigkeit, Boden, noch Weydtgang ansprechen" (kann).

Nach der Trennung von Stadt und Land (1833) übernahm das Kirchen- und Schulgut Baselland das Waldenburger Schlossgut. Die Vordere Wasserfalle, ehemals Sommerweide, war schon 1804 durch Verkauf in private Hand gekommen. Der erste Besitzer war Friedrich Meyer aus Waldenburg. Aus dieser Zeit stammt eine Planskizze von Hans Jacob Meyer und ein Plan der Waldherren. Im Jahre 1841 kam es dann zu einer Ausscheidung der Rechte der Gemeinden Reigoldswil und Waldenburg. Reigoldswil verzichtete endgültig auf das Holzrecht auf der Hinteren Egg und auf dem Chellenchöpfli. Waldenburg hingegen überliess das Beholzungsrecht im Entzionengraben bis zur Ankenballe den Reigoldswilern und erhielt von ihnen als "Nachgeld" eine Entschädigung von 275 Franken. Diese Regelung gilt auch heute noch. Reigoldswil besitzt in der ausgesteinten, 12 ha umfassenden Waldfläche im Banne Waldenburg das Beholzungsrecht. An die Verhandlungen der beiden Gemeinden, die zum Teil wohl in Reigoldswil stattfanden, erinnert eine alte Redensart, welche auf den beträchtlichen Landverlust auf der Wasserfalle hinweist:

«Z Reigetschwyl in der Sunne, isch d’Ankeballe verrunne!»

Reigetschwyler Bott



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